Dekonstruktion der Gesellschaft
Die Metastasen des Zeitgeistes
Nur wer Charakter hat, kann Haltung zeigen und damit Halt geben – Ritterlichkeit anstatt Selbstverleugnung.
Wie können wir etwas zum Besseren verändern, unser Umfeld oder gar die Entwicklungen unserer Zeit beeinflussen? Durch Charakter, meint Bbr. Brittanicus, Baron Vinzenz von Stimpfl-Abele.

Nirgendwo auf der Welt werden die Achtung und der Respekt vor der abendländischen Geschichte, Kultur und Tradition – und damit unsere Identität – so infrage gestellt wie ausgerechnet bei uns in Europa. Das drückt sich nicht zuletzt in einem systematischen Kampf gegen die christlichen Werte aus. Der verstorbene Papst Franziskus hat dies einmal pointiert als „höfliche Christenverfolgung, getarnt als Kultur, getarnt als Moderne, getarnt als Fortschritt“ bezeichnet. Ganz zu schweigen davon, dass wir derzeit die größte weltweite Christenverfolgung aller Zeiten erleben: Laut aktuellem Weltverfolgungsindex sind 380 Millionen Christen heute Verfolgung, Unterdrückung und Diskriminierung ausgesetzt. Wo bleibt da der unüberhörbare Aufschrei?
Oder nehmen wir den auffällig starken Akzent, der in Politik und Medien auf den sogenannten „Pride Month“ gesetzt wird, in dem es um das Hochleben-Lassen der LGBTQIA+ Community geht. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Ich bin gegen Diskriminierung, ganz unabhängig von Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen. Wenn, wie in Österreich geschehen, ein rechtsextremer Mob aus Verachtung und Hass Homosexuellen systematisch Fallen stellt, um sie demütigen und quälen zu können, dann ist das ein unerträglicher Skandal, eine Barbarei, die die Gesellschaft nicht dulden darf. Doch warum widmen wir nicht auch der Familie einen „Pride-Month“ und rücken sie damit in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit? Mit Familie meine ich Mutter, Vater und Kinder: die Keimzelle unserer Gesellschaft. Warum zeigen wir uns nicht stolz auf die Unternehmer, die mit ihrer Leistungswilligkeit, Leistungsfähigkeit und ihrem Unternehmergeist Arbeitsplätze schaffen und den Wohlstand sichern? Warum feiern wir nicht Wissenschaft und Forschung, die uns technischen Fortschritt und Verbesserungen in allen Lebensbereichen ermöglichen? Keine andere Gruppe bekommt weltweit konzertiert eine vergleichbare Bühne mit derartiger Aufmerksamkeit, wie die queere Gruppe. Das scheint mir nicht mehr verhältnismäßig.
Das neue alte Lied von Ideologie statt Glauben
Die selbsternannte progressive Linke unserer Zeit hat verblüffend viel mit der alten Linken gemein: Es ist das neue alte Lied von Ideologie statt Glauben, von Umverteilung statt Leistung, von Regeln und Regulierung statt Verantwortung und Freiheit, von Gleichmacherei statt Gleichheit, von Zentralismus statt Föderalismus und Subsidiarität.
Wir erleben gerade die systematische Dekonstruktion der Gesellschaft durch Umwertung vieler christlich-europäischer Werte und eine gezielte Unterminierung des Wertesystems, das unsere Gesellschaft ausmacht. Wir erleben eine Zeit der gesellschaftlichen Egozentriertheit und einer Politik der Disruption. Wir erleben die dramatische Wechselwirkung zwischen einer zunehmend polarisierten Gesellschaft und immer radikaleren Positionen in der Politik. Wir erleben, wie die tot geglaubten Mumien der Geschichte zu neuem Leben erwachen und aus ihren Sarkophagen steigen um die aktuelle Weltpolitik zu prägen: Kommunismus, Faschismus, Krieg in Europa, ein ständig an Härte zunehmender Kampf der Systeme, Wissenschafts- und Institutionenfeindlichkeit. Verbunden damit eine Renaissance der Autokraten. Dazu kommt noch der absurde Karneval der Befindlichkeiten, der gerade Wirtschaft und Gemeinwesen schwächt, in dem jeder maximale individuelle Freiheiten und optimale Lebensqualität haben und dabei gleichzeitig vor jeglicher Unbill geschützt sein will. Das kann und wird auf Dauer nicht gut gehen.
Wo Toleranz zum Verbrechen avanciert
All das unter dem Deckmäntelchen der Toleranz. Aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen: Toleranz bedeutet nicht Selbstverleugnung, Identitätsverzicht oder Unterwerfung. Viktor Frankl, der große österreichische Psychiater, der aufgrund seines jüdischen Glaubens von den Nazis ins KZ gesperrt wurde, hat das so auf den Punkt gebracht: „Toleranz besteht nicht darin, dass man die Ansicht eines anderen teilt, sondern nur darin, dass man dem anderen das Recht einräumt, überhaupt anderer Meinung zu sein.“ Im „Zauberberg“ von Thomas Mann heißt es: „Prägen Sie sich immerhin ein, dass Toleranz zum Verbrechen wird, wenn sie dem Bösen gilt.“
Wie können wir etwas zum Besseren verändern, unser Umfeld oder gar die Entwicklungen unserer Zeit beeinflussen? Durch Charakter, denn es zeugt von Charakter, nicht davon auszugehen alles zu wissen, wissenshungrig zu bleiben, Fakten und Zusammenhänge verstehen zu wollen, ehe man sich eine Meinung oder ein Urteil bildet, die andere Seite zu hören und sich sachlich mit Standpunkten zu befassen, die nicht die eigenen sind, seinem Gegenüber sogar dann Respekt entgegenzubringen, wenn man dessen Position verachtet. Wissen und Bildung sind in unserer Welt der leider oft nur wenig fundierten, dafür umso entrüsteteren Meinungen zukunftsentscheidend. Der Charakter lässt uns aufrecht und aufrichtig bleiben, gerade bei Widerspruch und Widerstand. Nur wer Charakter hat, kann Haltung zeigen und Halt geben. Nur wer Haltung zeigt, ist kein Fähnchen im Wind, weil er durch Vorbildwirkung Orientierung geben kann. Nur Orientierung weist den richtigen Weg, eröffnet Perspektiven und gibt Hoffnung.
Eine Frage des Charakters
Charakter bedeutet, vor der eigenen Türe zu kehren, sich selbst und die eigenen Positionen zu hinterfragen, an der eigenen Persönlichkeit zu arbeiten, sich dort zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen, wo man etwas verändern kann. Denn wie Seneca so treffend schreibt: „Den Charakter kann man auch aus der kleinsten Handlung erkennen.“ Ich habe mit einem Zitat von Polybios begonnen und möchte mit ihm auch schließen. Er schreibt, es sei keine Kunst, sich ehrgeizige Ziele zu setzen. Ihnen aber gegen Widerstand treu zu bleiben, das sei nur wenigen gegeben. Wie wahr! Genau das braucht unsere Gesellschaft jetzt. Und es wird uns gelingen, wenn wir gerade in Zeiten wie diesen eine Kultur der Achtung statt der Verachtung vorleben, wenn wir uns nicht als gesellschaftspolitische Scharfmacher und Scharfrichter verstehen, sondern als positive Vorbilder, wenn wir differenzieren statt zu generalisieren, wenn wir dort, wo das Leben uns hinstellt, mit erhobenem Haupt für unsere Überzeugungen einstehen, statt mit erhobenem Zeigefinger vom sicheren Spielfeldrand aus zu kommentieren, wenn statt über parteipolitische Brandmauern zu diskutieren ein lebendiger wertepolitscher Schutzwall sind.
Der Autor ist Prokurator des „St. Georgs-Orden - Ein europäischer Orden des Hauses Habsburg-Lothringen“. Dieser Beitrag erschien erstmals in der katholischen Zeitung „DIE TAGESPOST“.